Oliver Marchart,
Was heißt Soundpolitisierung?

Von der Politik des Sounds zum Sound der Politik

Seit ein paar Wochen müssen sich die Trendjournalisten überlegen, ob die unpolitische Jugend, von der sie in ihren alljährlichen Die-heutige-Jugend-Features immer gefaselt hatten, tatsächlich unpolitisch ist oder es je war. Wenn man mal großzügig davon absieht, daß es "die Jugend" sowieso nicht gibt, dann ist es vor allem der Begriff "Soundpolitisierung", mit dem sich wenigstens eine bestimmte Community auf der politischen Bühne zurückmeldet. Obwohl der Begriff aufs erste etwas dämlich klingt, ist er doch irgendwo auch treffend. In den letzten 20 Jahren der Pop-Geschichte ging es nämlich immer wieder um die Frage, inwieweit ein bestimmter Sound politisch ist oder politisch werden kann. Im folgenden soll ein wenig geklärt werden, wie Sound und Politik zusammenhängen und was überhaupt Politisierung heißen kann. Ein kurzer Rückblick soll deutlich machen, wie bisher der Zusammenhang von Sound und Politik gedacht wurde und inwiefern sich die jetzige "Soundpolitisierung" von diesen älteren Ansätzen unterscheidet.

Beginnen wir dabei nicht mit dem "beinharten Protestlied" der 70er oder noch früher (zur Geschichte und Theorie des Protestsongs sh. Günther Jacobs Texte auf http://www.t0.or.at/~oliver), sondern mit den uns näheren 80ern, die noch in der politischen Überbauproduktion zur elektronischen Musik der 90er nachwirkten. In den 80ern drückte sich Pop-Politik nämlich - gerade dort, wo sie völlig auf den Rebellionsgestus pfiff - als hedonistische Pop-Subversion aus. "Subversion" hieß, daß die politischen Absichten dadurch befördert werden sollten, daß sie gerade nicht ausgesprochen wurden. Der "Subversionssong" ist subversiv, weil nicht jeder mitkriegt, daß er politisch ist. Dieser Zweig des post-politischen Pop, wie ihn Steve Redhead nannte, würde die "lost links between popular music and deviance" bewahren, gerade weil er sie nicht explizit macht.

Besonders die "Subversion durch Überaffirmation"-Strategie (am bekanntesten von ABC, theoretisch bei Baudrillard aufzufinden) steigerte sich mit durchaus politischem Bewußtsein bis zur hysterischen Umarmung alles Populären. Der Überaffirmationsstrategie liegt die Hegel/Marxsche (und doch leider falsche) Idee des Umschlagens von Quantität in eine neue Qualität zugrunde. Rainald Goetz dichtete damals "Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop". Eigentlich sagt er das heute noch über Techno. Nur damals bedeutete es: Wenn man nur lange genug aufs Gas trete, dann lande man am Ende von Pop bei RAF. Tatsächlich ist Götz bei Westbam gelandet, dem Helmut Kohl der elektronischen Musik.

Das wurde in den 80ern also in allen Variationen durchgespielt. Aber während die fröhlichen Pop-Subversions-Hirsche der 80er inzwischen weitgehend unter Naturschutz gestellt sind, fand die nächste Generation neue und smartere Argumente: etwa "Poststrukturalistische Soundtracks". In den 90ern besann man sich auf Deleuze und Guattari - und damit unbemerkt auf ein 60ies-Revival, denn die beiden waren ja nichts anderes als reichianische Althippies. Als solche dienten sie der Beschwörung des freien libido-flows in der Tradition einer psychodelischen 60er und -70er-Schizo-Politik. Viele affirmative Theorie-Texte der frühen 90er (mit eindeutigem Höhepunkt in den Mid-90ies) zu Techno, Raves und Warehouse Parties bezogen sich ganz in diesem Sinne auf sogenannte Deterritorialisierungsphänomene wie körperliche Entgrenzung, tanzende Entindividualisierung, Enthierarchisierung des Verhältnisses von DJ und crowd, Demokratisierung der Produktionsmittel, etc. Dahinter stand die Hoffnung auf eine anti-autoritäre Kraft defixierender Bedeutungspraxen, wie sie von Deleuze/Guattari genährt wurde und die man im damaligen Rave angeblich wiederfand.

Bald hatte sich ein Sub-Sub-Sub-Genre Deleuze-Techno gebildet (auf dem Force-Inc. Sublabel Mille Plateaux erschien zum Tode Deleuzens eine Memorial-CD, auf dem belgischen SubRosa-label eine Deleuze-Techno-Compilation mit dem idiotischen Titel "Folds and Rhizomes"). Mille-Plateaux-Chef Achim Szepanski liefert den deleuzianischen Überbau zu seinem Label. Er ging - wie schon die musique concrète - davon aus, daß man die "perfekten Melodien und perfekten Akkorde" der Volks- und Popmusik (das allein schon ein Vorurteil) mit Geräuschen und Störungen sprengen müsse: "Was das System immer auszuschließen versucht, ist das Rauschen", der Lärm, den z.B. Hacker verursachen, wenn sie in andere Systeme eindringen. Der Vereinnahmung der Subkultur durch die Medienindustrie setzte er entgegen, was er wörtlich "die Klangströme befreien" nennt. Dahinter steht die typisch bergson-reicho-deleuzianische Idee, daß es einen vitalen Strom, einen Fluß hinter den Rasterungen des Systems gibt. Deleuze selbst geht von einer a-priorischen Positivität des Wunsches aus, also einer vorausliegenden Substanz, die sich jeder endgültigen Fixierung entzieht. Ob wir diesen Fluß jetzt Wunsch oder Libido nennen oder Klangströme, es bleibt die Vorstellung einer Instanz, die sich den Zugriffen des Systems entzieht und von Systemgegnern befreien ließe.

Die großspurige Befreiungsrhetorik, die sich ideenhistorisch der 68er Sexualbefreiungstheologie verdankt (Deterritorialisierung "löst Blockaden" und "sprengt feste Kanäle", während Reterritorialisierung blockiert, oder in Hippie-Sprache rückübersetzt, "verklemmt"), wobei der etwas altbackene Wilhelm Reich gegen Deleuze eingetauscht wurde, diese Befreiungsrhetorik war natürlich durch keinerlei politische Praxis gedeckt. Dem Knirschen und Grunzen elektronischer "Studentenmusik" - denn Studenten waren ja wohl die Klassenbasis dieser Musik - wurde eine intrinsische Politikhaftigkeit und Subversivität zugestanden

Heute ist dieser Subversivitätsmythos - die Vorstellung, irgendein Sound sei an sich schon subversiv - abgeschrieben. In dem Moment aber, in dem die heroische Phase der Pop-ist-gleich-Politik-Apologeten vorbei ist und selbige Apologeten (traditionell in Spex und Spex-Umfeld angesiedelt) schon die Kurve gekriegt und zu einer Art unfreiwilligen Selbstkritik angesetzt haben (sh. den "Mainstream der Minderheiten"-Reader), in genau diesem Moment des Endes der eingebildeten Poppolitik, der Sound-Ideologie, ergibt sich in Österreich eine reale Sound-Politisierung. Was ist der Unterschied zwischen Ideologie und realer Politik, und was heißt Politisierung?

Der wesentliche Unterschied ist, daß das Politische nicht mehr im Sound selbst, im Material (z.B. der Digitalität) oder in ihren angeblich demokratischen Produktionsbedingungen gesucht wird. Man geht nicht mehr davon aus, daß elektronische Musik an sich subversiv oder fortschrittlich oder befreiend sei. Man geht überhaupt nicht mehr von Subversion aus, es sollen auch keine Klangströme befreit werden. Vielmehr geht es darum, daß eine bestimmte Szene oder Community sich öffentlich der Opposition gegen eine Regierung anschließt und das mit den ihr zu Verfügung stehenden Mitteln demonstriert. Darin besteht ihr Politik-Werden. Es geht also nicht um die imaginäre oder selbsteingebildete subversive Widerständigkeit gegen alle und keinen (wobei der Feind unbenannt bleibt), sondern um die Ankoppelung an eine real existierende politische Bewegung, die einen sehr klar und öffentlich benannten Feind hat. Das heißt reale Politisierung im Unterschied zu eingebildeter.

Um richtig verstanden zu werden: Die Sphäre der Alltags- und Populärkultur, die Sphäre des "Materials" und der Produktionspraktiken oder die Sphäre der Mikropolitik (die irgendwann mal das Private genannt wurde) sind natürlich keineswegs frei von Politik, das wurde ja gerade vom Feminismus zurecht immer wieder klargestellt. Diese "mikropolitische" Sphäre der Alltagskultur wie auch der sedimentierten institutionellen Praxen, die nicht unter Politik im traditionellen Sinn fallen, sind nicht unpolitisch. Und eine neue oppositionelle Politik muß, das hat schon Gramsci gewußt, auch eine "neue Kultur" schaffen, also auch in das weite Feld alltäglicher Diskriminierungen intervenieren. Daraus folgt aber argumentativ nicht, daß die Sphäre "traditioneller" Politik nun abgeschrieben werden kann und man sich auf die progressive aber privatistische Umformung der eigenen Alltagspraktiken (vom Mülltrennen zum Im-Sitzen-Pinkeln) beschränken kann. Gerade mit Gramsci folgt vielmehr, daß diese mikropolitischen Interventionen nur dann erfolgreich sein können, wenn sie sich im Feld der traditionellen Politik oder des politischen Systems bündeln und fokussieren. Bei Gramsci war für diese Aufgabe die Partei vorgesehen, aber das geht auch ohne Partei. Allerdings ganz ohne irgendeine makropolitische Bündelung mikropolitischer Praktiken bleiben letztere "blind" und richtungslos, da auf spontane Intention von Privatindividuen angewiesen.

Es sei also festgehalten: Die (Makro-)Politik, die mit öffentlicher Sichtbarkeit im politischen Raum einhergeht, mit offen erklärtem Widerspruch, mit erkennbar erhobenen Forderungen, diese Art von Politik ist nicht dasselbe wie die stille (mikro-politische) Durchdringung von Alltags- oder Populärkultur mit Sexismen, Rassismen und Klassendünkeln. (Und sie hat natürlich erst recht nichts mehr zu tun mit der 80er Politik der "geheimen" Subversion und Überaffirmation). Politisieren ist in diesem Sinn erstmal eine Art Veröffentlichung, ein Öffentlichwerden. Durch diese "Veröffentlichung" werden Unterordnungs-Verhältnisse das Alltags als politische Unterdrückungs-Verhältnisse öffentlich sichtbar gemacht. Und auch eine oppositionelle Einstellung gegenüber der Regierung, die sich nicht ins Freie traut, sich nicht öffentlich artikuliert, trägt eher zur Stabilisierung der Regierung bei als zu deren Abgang. Genau diese Veröffentlichung der eigenen Position - das Stellungbeziehen einer bestimmten Community - muß man den Volkstanz-Demos zugute halten. Hannah Arendt hätte das - in ihren Worten - wohl so beschrieben, daß sich hier die Menschen aus dem Dunkel ihrer Clubs ins Licht der Öffentlichkeit begeben.

Daß dies mit den eigenen Mitteln des Partyings geschieht, das sollte Außenstehende oder Polittraditionalisten nicht allzusehr schockieren. Es gibt selbst in traditionellen Protestformen eine politische Sprache ohne Sprache. Wer zum Beispiel glaubt, eine Demonstration ohne lange Reden und Ansprachen sei keine Demonstration, der hat noch nie etwas von Schweigemärschen gehört. Dort werden, wie der Name schon sagt, auch keine politischen Ansprachen gehalten. Es geht vielmehr um pure Präsenz, bloße Anwesenheit, die zum Zeichen von Differenz wird: Wir-Stehen-Hier versus Ihr-Steht-Dort (dasselbe funktioniert übrigens nicht nur mit Stehen, sondern auch mit Gehen oder Tanzen). Um diese Differenz klarzumachen, braucht es erstmal keine Worte. Die Volkstanz-Demos sind in diesem Sinn nichts anderes als mit einem Soundtrack unterlegte Schweigemärsche. Und genausowenig wie ein Schweigemarsch unpolitisch ist, ist ein "Sound"-Marsch unpolitisch, vorausgesetzt es bleibt klar, wogegen er sich richtet. Und das ist in diesem Fall ja wohl klar genug.

Klar ist es, weil alle Forderungen in einer einzigen Forderung zusammenlaufen: Keine Koalition mit dem Rassismus. Oder noch kürzer: Weg mit der Regierung. Das ist so klar, daß sich auch auf den anderen Wandertagen Reden erübrigt haben, und dort, wo es doch Reden gab - wie auf der großen Heldenplatzdemo - waren sie eher peinlich und überflüssig. Das heißt nicht, daß den DemonstrantInnen der Schmäh ausgegangen wäre - im Gegenteil. Die eine Forderung - Weg mit der Regierung! - wird in hunderten von mehr oder weniger originellen Banderolen, Plakaten und Symbolen variiert, die zum guten Teil übrigens auch der Populärkultur entstammen, wie etwa: "Haß ist der erste Schritt auf die dunkle Seite der Macht - Yoda". Hier wird mit den Semantiken gearbeitet, die gerade zu Verfügung stehen und als "popkulturell" bekannt vorausgesetzt werden können. Umgekehrt sind traditionelle politische Semantiken keineswegs völlig verschwunden. Sie nehmen aber neue Bedeutung an, wie etwa der gegen Schlögl gerichtete Klassiker "Wer hat uns verraten - Sozialdemokraten". Der Wortlaut bleibt der gleiche, aber der "Verrat" der Sozialdemokratie besteht jetzt in ihrer Kapitulation vor dem Neorassismus. Das beste Beispiel für diese Resemantisierung war der Vorschlag, Europafahnen mit rotem Grund zu produzieren. Darin wurden Dinge miteinander artikuliert, die sich üblicherweise ausschließen: traditioneller Internationalismus + Solidarität mit der EU + linke Kritik an der EU.

Obwohl mit den verschiedenen Varianten verschiedene Akzente gesetzt werden, die Forderung läßt sich immer auf die Opposition gegen die Regierung (und gegen das, wofür sie steht) herunterbrechen. Die gemeinsame Frontstellung gegenüber der Regierung ist das, was die unterschiedlichsten Gruppen und Communities eint. Das wesentliche Merkmal an einer Antagonisierung - und damit Politisierung - der Gesellschaft besteht genau in dieser Vereinfachung, der Klärung von Positionen, die an sich nichts Schlechtes ist, sondern eben etwas Klärendes. Deshalb ist die Kritik unsinnig, obwohl sie immer wieder aufkommt, man müsse ein völlig ausgereiftes und ausgeklügeltes politisches Weltbild besitzen, um gegen diese Regierung auftreten zu dürfen. Und da unterstellt wird, die politische Bildung der subkulturellen Volkstänzer sei nicht ausgereift, wird ihr Protest als unpolitisch abgetan.

Diese Kritik ist schlicht anti-demokratisch. Niemand braucht einen Uni-Abschluß in kritischer Diskursanalyse um zu sehen, daß ein Plakat wie "Stop der Überfremdung" rassistisch ist. Genausowenig braucht man eine politische Kadervergangenheit, um sich gegen so etwas zu organisieren. Es sind auch noch keine Tests in Staatsbürgerschaftskunde Voraussetzung dafür, daß jeder und jede genau diese staatsbürgerschaftlichen Rechte (wie auf Kundgebungsfreiheit) wahrnehmen darf. Und gerade die handeln dann unpolitisch? Wer bereit ist, für die eigene Position auf die Straße zu gehen, ist immerhin um einiges politischer als jene, die sich gerade mal alle vier Jahre zu einer Wahlzelle schleppen. Und schon gar nicht braucht die sogenannte "Jugend" Nachhilfe durch Politjournalisten und Zeitungskommentatoren.

Die Frage, die sich heute stellt, lautet anders. Sie lautet nicht: Ist der Protest politisch genug?, sondern sie lautet: Wie läßt sich der gegenwärtige Politisierungs- und Mobilisierungsschub tatsächlich auf Dauer halten und wie läßt sich ihm Substanz geben. Was bleibt nach der Party? Was wäre After-Hour-Politisierung? Oder anders: Läßt sich die Politik im "Volkstanz" hinüberretten in die Zeit nach dem "Volkstanz"? Mir scheint erstens, daß nachhaltige Politisierung über Demo-Parties hinaus wohl nur dann entstehen wird, wenn sich die TeilnehmerInnen tatsächlich inhaltlich und organisatorisch anderen, ganz unlustigen politischen Organisationen und Gruppen nähern und anschließen - Gruppen, die vielleicht den schlechteren Sound haben, dafür aber die besseren Inhalte. Auf kurz oder lang wird wohl ein Wechsel nötig vom Spaß des Protests in die Mühen der politischen Ebene - wobei der Marsch durch diese Ebene meiner Einschätzung nach noch mindestens dreieinhalb Jahre dauern wird (und auch nach der nächsten Wahl wird nicht gleich das Paradies und der Weltfriede ausbrechen).

Und zweitens: Bisher bestand die Politisierung nur in einer Antagonisierung nach außen, gegenüber der Regierung - und im Ankoppeln der eigenen Community an die breitere "freie Opposition". Wenn sie aber dauerhaft sein soll, dann muß der Politisierung gegenüber dem äußeren Feind auch eine Politisierung nach innen folgen, und zwar qua Reflexion auf die Ausschlußmechanismen der eigenen Community. Neben der äußeren Frage nach dem Rassismus der Regierung muß die interne Frage gestellt werden nach den eigenen Geschäftsgrundlagen: Gibt es sexistische und rassistische Ausschluß- oder Unterordnungsmechanismen auch bei uns selbst? Wenn ja, wie lassen sie sich sichtbar machen und wie läßt sich ihnen begegnen. Politisierung würde in diesem selbstreflexiven Sinn also zu fast schon sowas wie Self-Education. Das ist durchaus klassisch aufklärerisch. Denn Aufklärung, das ist der "Ausgang aus der selbst-verschuldeten Unmündigkeit". Diesen Ausgang muß jede/r für sich (und auch jede Community für sich) finden, denn was selbstverschuldet ist, kann man auch nur selbst bereinigen. Das ist übrigens von Kant, nicht von Deleuze.